«Taktvoll die Nähe, respektvoll die Distanz»
Ein Rückblick auf einen Weiterbildungs-Nachmittag an der HFS Zizers mit Jan Volmer.
Die HFS hat im März 23 einen Weiterbildungs-Nachmittag mit dem systemischen Therapeuten Dr. phil. Dipl.-Päd. Jan Volmer angeboten. Herr Volmer ging dabei von seinem Buch «Taktvolle Nähe – vom Finden des angemessenen Abstands in pädagogischen Beziehungen» aus und thematisierte das Spannungsfeld in der Fremdbetreuung zwischen Nähe und Distanz. Dabei schätzte er ein, wieviel Nähe erlaubt ist, was professionelle Nähe sein kann und wie eine respektvolle Distanz notwendig ist, damit Nähe und Distanz nicht grenzverletzend und missbräuchlich werden.
In den letzten 20 Jahren wurden viele missbräuchliche Vorkommnisse in Institutionen und Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche aufgedeckt und aufgearbeitet. Als Konsequenz daraus wurden Richtlinien, Grundsätze und Konzepte verfasst, um sowohl die Kinder und Jugendlichen als auch die Betreuungspersonen zu schützen. Jan Volmer macht aber darauf aufmerksam, dass diese Massnahmen, so dringend notwendig sie auch sind, zu erneuten Traumatisierungen führen können: «Missbrauchsprävention ja – unbedingt! Kindern jedoch die Nähe zu verwehren, die sie zur Überwindung ihrer Einsamkeit, zum Wachstum und zum Gesunden so dringend benötigen, ist ein Verbrechen anderer Art.»
Wie nahe wir als Fachpersonen unserer Klientel kommen dürfen, macht Jan Volmer von verschiedenen Faktoren abhängig:
Unsere Rolle: Als Lehrperson werde ich kaum am Bettrand eines Kindes sitzen. Als Sozialpädagogin kann es aber durchaus angebracht sein, einem fünfjährigen, Heimweh-geplagten Kind eine tröstende Geschichte zu erzählen oder es in den Arm zu nehmen.
Alter und Entwicklungsstand meines Gegenübers: In einer Kita wäre es herzlos, ja unprofessionell und missbräuchlich, wenn ich ein schreiendes Kleinkind nicht auf den Arm nähme, aus Angst, zu nahe zu sein! Dem Jugendlichen im Teenageralter wird die junge Sozialpädagogin kaum einen Gute-Nacht-Kuss geben dürfen.
Der Kontext: Die Bezugsperson auf der Wohngruppe steht den ihr anvertrauten Menschen näher als die Zahnärztin oder der Arzt, und doch wird in der Medizin der körperliche Kontakt näher sein, als die Bezugsperson dies umsetzen darf.
Jan Volmer weist darauf hin, dass es oft keine Rezeptlösung gibt, wie nahe bzw. wie distanziert Fachpersonen sein dürfen oder sollen. Er spricht aber von Leitplanken:
Der rechtliche und ethische Rahmen: Kommt z.Bsp. in die Beziehung zwischen Fachperson und Klientel eine erotische Spannung, wird die Fachperson auf Distanz gehen müssen! Jan Volmer weist darauf hin, dass sexuelle Übergriffe oft nicht plötzlich entstehen, sondern sich aus einer verändernden Nähe entwickeln, welche teilweise auch im Umfeld wahrgenommen, vielfach aber nicht angesprochen wird. Als ethische Leitplanke betont Jan Volmer die Würde des Menschen. Mit den Worten Immanuel Kants: «Die Würde des Menschen ist ein absoluter innerer Wert, der über allen Preis erhaben ist.»
Bedeutung von Nähe: Jan Volmer zitiert den Entwicklungspsychologen, Säuglingsforscher und Psychoanalytiker Daniel Stern: «Begegnungsmomente haben das Potenzial, implizites Beziehungswissen zu verändern.» Im Fokus muss das Wohl und die Entwicklung der betreuten Menschen stehen. Gerade traumatisierte Menschen haben Nähe oft grenzverletzend, schmerzhaft, ohnmächtig erlebt und haben sich in Isolation und Einsamkeit zurückgezogen. Sie benötigen respektvolle, heilvolle, würdevolle, positive neue Beziehungs- und Nähe-Erfahrungen, um wieder Vertrauen fassen zu können. Dazu der niederländische Traumaforscher Onno van der Hart: «Ich glaube, dass der Kern jeder Traumatisierung in extremer Einsamkeit besteht, im äussersten Verlassensein. Eine liebevolle Beziehung wird notwendig sein, um überhaupt von einem Trauma genesen zu können.»
Bedeutung von Distanz: Jan Volmer zeigt auf, dass Distanz ebenso zur Entfaltung der Persönlichkeit beiträgt. Wir alle benötigen einen Privatraum, in welchem wir dem allgegenwärtigen Blick anderer Menschen ausweichen können, Raum und Zeit, um das eigene Selbstgefühl, die eigene Wahrnehmung wiederherstellen und ordnen zu können.
«Taktvoll»: Für sein Buch hat Jan Volmer den Titel «Taktvolle Nähe» verwendet und erklärt, was mit «taktvoll» – altdeutsch «Zartsinn» – gemeint ist. Taktvolle Nähe ist geprägt von Liebenswürdigkeit, Diskretion und Freundlichkeit. Jan Volmer unterteilt dies in einen sachlichen Blickwinkel, wie Anstand und gutes Benehmen und in einen persönlichen, wie Feingefühl, Anteilnahme und Aufrichtigkeit. Dazu gehört oft auch ein taktvolles Schweigen: «Der Taktvolle vermeidet es, eine Wahrheit, die nur schmerzen, aber nicht lindern oder helfen kann, zur Sprache zu bringen, er schweigt, wo Worte mit der Wahrheit auch die Verzweiflung brächten und spricht leise, wo Lautsprecherisches beschämen würde.»
Auf den Punkt gebracht:
«Durch taktvolles Verhalten entsteht zwischen mir und dem anderen eine Sphäre,
- in der es Schonung und Güte gibt und dennoch Aufrichtigkeit und Tiefe
- in der niemand Angst haben muss, sein Gesicht zu verlieren
- die eher leise als laut und eher langsam als schnell ist
- die vor allem unaufgeregt ist
In einer solchen Sphäre können Nähe und Intimität ohne Angst zugelassen werden.» (Jan Volmer)
Wir schauen auf einen gelungenen, inspirierenden Nachmittag zurück, der sich sowohl für uns als HFS wie auch für unsere Besucherinnen und Besucher gelohnt hat. Die Rückmeldung eines Teilnehmenden: «Eine ergreifende und berührende Weiterbildung der HFS Zizers… Ich fühle mich in meinen Rollen als Vater, Partner, Berater, Schulleiter und Politiker stark angesprochen und konnte von den theoretischen und praxisnahen Inputs profitieren.»