Höhere Fachschule für Sozialpädagogik

Trauma

Wir wissen heute sehr viel über Entstehung, Formen und Folgen von Traumatisierungen. Die vielen Fachbücher bergen aber auch eine Gefahr in sich: es wird fachlich-wissenschaftlich «etwas» erklärt, als ginge es um eine «Sache», dabei ist dieses «Etwas» für die Betroffenen mit Leiden, Horror und Schmerzen verbunden, die sich nicht in Worte fassen lassen.

Datum
12. Mai 2021

Worte für etwas, das sich nicht in Worte fassen lässt

Vor einigen Jahren ging die Meldung von einem syrischen Jungen durch die Medien, der voller Stolz fremde Männer zu seinem Vater führte und dann zuschauen musste, wie diese seinen Vater auf brutalste Art ermordeten. Lesen wir dies, ist es gut, wenn wir zuerst einmal sprachlos sind. Kann und soll man in Worte fassen, was in diesem syrische Jungen vorgeht, können wir es überhaupt nachvollziehen? Am ehesten sind Worte wie unfassbar oder unaussprechlich angebracht.

Was ist ein Trauma?

Vom ersten Lebenstag an ist der Mensch Belastungen, Enttäuschungen und anderen schmerzvollen Erlebnissen ausgesetzt: der Hunger des Säuglings, der nicht sofort gestillt wird; der Tod des geliebten Meerschweinchens; die Teenagerliebe, die in Brüche geht; Verlust der Arbeitsstelle; Unfälle und Krankheiten. Es gehört zum Leben, sich durch solch schmerzhafte Erlebnisse hindurchzukämpfen. Dazu sind wir aber auch ausgerüstet mit lebensfördernden, heilenden Kräften – psychisch, körperlich und in unserem Umfeld. Auch wenn diese «zum Leben gehörenden» Belastungen sehr heftig sein können und uns für einige Zeit aus der Bahn werfen – in den meisten Fällen stellt sich früher oder später wieder das Gleichgewicht zwischen den «niederdrückenden» und den «hinaufziehenden» Kräften ein. Das gesunde Leben wird wieder hergestellt. Beim «Trauma» ist das anders: die heilenden Kräfte in uns und in unserem natürlichen Umfeld reichen nicht aus, um die belastenden Erfahrungen zu bewältigen: Wir fühlen uns ohnmächtig gegenüber den «Ungeheuern“, die uns zusetzen, verbunden mit intensiven negativen Gefühlen, vor allem Angst vor drohender Vernichtung, Hilflosigkeit, Kontrollverlust und Verunsicherung.

Der subjektive Weltuntergang: «Ich rase auf einen Abgrund zu und finde die Bremse nicht, um zu stoppen» - so konnte ein Jugendlicher diesen Zustand in Worte fassen. Das ist der Kern des Traumas.

Die tiefe Wunde

Trauma heisst im Griechischen «Wunde». Die Liste von Erfahrungen, die diese Wunden schlagen können, ist lang: Misshandlung, Missbrauch, Mobbing, Beziehungsabbrüche, Kriegs- und Fluchterfahrungen, erniedrigende Bemerkungen und vieles mehr. Besonders tiefe Wunden schlagen Erlebnisse, die uns intensiv mit dem Tod konfrontieren, Bindungen zu Bezugspersonen zerstören oder die das Bewusstsein, ein wertvoller und selbständiger Mensch zu sein, zerstören. Und wenn diese Traumatisierungen von vertrauten Menschen zugefügt werden und allein, ohne helfenden Beistand erlebt werden müssen, ist die Katastrophe perfekt.

Als Begleitpersonen sind wir mit einbezogen

«Wenn ich Schwierigkeiten mache, nimmt mein Onkel ein heisses Bügeleisen und verbrennt mich damit», schreibt die 13-jährige Alina (Name verändert). Da steigen Emotionen in uns auf: Wut, Entsetzen, Mitleid. Wir sind mitbetroffen, mit hineingenommen in die Leidensgeschichte des Kindes. «Sekundäre Traumatisierung» oder «Übertragung» heisst das in der Fachsprache: Das Trauma anderer Menschen ergreift Besitz von uns. Wir erleben als Begleitpersonen das, was traumatisierte Menschen erlebt haben, nach. Und oft noch mehr als das – wir sind in Gefahr, dieselben Notfallreaktionen zu zeigen, die Menschen – auch Tiere! – in Situationen existenzieller Bedrohung zeigen:

Notfallreaktionen zur Bewältigung der Bedrohung

In Situationen akuter Bedrohung greifen wir Menschen – genauso wie Tiere – zu Notfallreaktionen: Wir kämpfen gegen die Übeltäter: «Kaputt machen, was mich kaputt macht»; „Besser, ich schlage drein, als dass ich selber geschlagen werde».
Oder wir fliehen vor der Bedrohung: Das Geschehene wird verdrängt, aus dem Bewusstsein abgespalten – Dissoziation. Ein Kind kann sich mit dem besten Willen nicht mehr daran erinnern, was passiert ist, oder was es dabei an Schmerzen erlebt hat. Ein Jugendlicher merkt, dass das besonders gut gelingt, wenn er Drogen konsumiert.
Wenn Kampf und Flucht nicht mehr möglich sind, erstarren wir: «Totstellreflex». «Wenn ich mich anpasse, unauffällig und ‚brav’ bin, werde ich in Ruhe gelassen.» Damit hört das Kind aber auf, wirklich zu leben.

Folgen von Traumatisierungen

Wie verheerend sich eine Traumatisierung auswirkt, hängt nicht einmal so sehr von der Art der Traumatisierung ab, als davon, wie sie der betroffene Mensch subjektiv erlebt: scheinbar harmlose Ereignisse können beim Einen sehr tiefe Verletzungen bewirken, und brutalste Erlebnisse kann ein Anderer erstaunlich gut wegstecken. Das verhängnisvolle am Trauma ist, dass es sich tief in unserer Persönlichkeit eingräbt. Das, was wir in der Notfallsituation erlebt haben, wird zum Alltag, die erlebten Emotionen verfolgen uns weiter. Besonders dann, wenn wir in Situationen geraten, die irgendeine Ähnlichkeit mit dem Horrorerleben haben. Immer wieder erlebt der Jugendliche, dass er auf Abgründe zurast, ohne bremsen zu können. Der ganze Organismus ist in konstanter Alarmstimmung, steht unter Dauerstress. Kämpfen, Fliehen oder Erstarren – in verschiedensten Variationen – bestimmen immer wieder die Beziehung zu den Mitmenschen. Am tragischsten sind aber wohl die Denkweisen über sich und die Welt, die sich durch das traumatische Erleben dunkel verfärbt haben:

Ich bin nichts wert, sonst hätte man mir das nicht zuleide getan. Die Welt ist böse und gefährlich, nimm dich in Acht. Ich kann nichts ausrichten. Aber ich habe mich jetzt an all das gewöhnt ...

Hoffnung und gesundes Leben trotzdem

Trotz all dem ist wichtig festzuhalten: Traumatisierte Kinder und Jugendliche sind zuerst einmal KINDER und JUGENDLICHE – mit vielen liebenswürdigen und genialen Seiten und viel positiver Lebenskraft! Auch wenn das Trauma grossen Schaden angerichtet hat – neben (oft sogar IN!) allen Traumafolgestörungen ist immer noch VIEL MEHR GESUNDES, STARKES LEBEN vorhanden! Dieses zu wecken und zu fördern, ist die schöne Aufgabe der Traumapädagogik.

Obwohl die Welt voller Leid ist, ist sie auch voller Sieg über das Leid.

Helen Keller, taubblinde Schriftstellerin

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