Zwei zentrale Aspekte der Traumapädagogik
Was brauchen Kinder und Jugendliche mit einer Traumatisierung? Wie können sie im Umgang und in der Bewältigung ihrer schweren Lebenserfahrungen unterstützt und begleitet werden? Wie kann das Gesunde, das Starke, die Lebenskraft geweckt und gefördert werden? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Traumapädagogik.
In der Traumapädagogik geht es nicht nur um Methoden und pädagogische Instrumente, sondern auch um grundsätzliche Aspekte des Zusammenlebens wie z. B. die Haltung oder die Bedürfnisse vom Umfeld und betroffenen Personen. Mit dieser ganzheitlichen Sichtweise wird die Pädagogik als wirkungsvolle Arbeit in der Aufarbeitung und im Umgang mit traumatischen bzw. schweren Erfahrungen ins Zentrum gerückt.
Laut Untersuchungen aus Deutschland und der Schweiz haben über 75 Prozent der Kinder und Jugendlichen in stationären Einrichtungen traumatische Erfahrungen hinter sich (Weiss1 2013, S. 86). Bei diesen Kindern und Jugendlichen besteht ein spezifischer pädagogischer Handlungsbedarf, der auch an die Mitarbeitenden /Bezugspersonen hohe Anforderungen stellt. Deshalb spielen in der Traumapädagogik auch die Stabilität und Versorgung der Mitarbeitenden und Teams eine zentrale Rolle.
Ein Hauptziel ist es, den Kindern und Jugendlichen neue, positive Erfahrungen zu ermöglichen, welche den traumatischen Erfahrungen entgegengesetzt werden.
Die Traumapädagogik umfasst viele spezifische Konzepte, Instrumente und Ansätze, die für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit einer Traumatisierung entwickelt wurden. Im Folgenden werden zwei zentrale Aspekte vorgestellt: Die traumapädagogische Haltung und die Pädagogik des sicheren Ortes.
Wichtige Elemente der traumapädagogischen Haltung
Entscheidend in der traumapädagogischen Arbeit ist die Haltung. Dabei geht es um die Haltung, wie wir an die Arbeit mit diesen Kindern und Jugendlichen herangehen, um die Haltung gegenüber den Kindern und Jugendlichen – wie begegnen wir ihnen? Und schlussendlich geht es um die Haltung gegenüber uns selbst
Freude
Wenn ich mich nicht grundsätzlich freue, mit diesen Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, ist keine positive Beziehung möglich. Ich kann die Kinder und Jugendlichen nicht zu Lebensfreude hinführen. Deshalb ist in der Traumapädagogik der Blick auf uns selbst und die Sorge für uns selbst entscheidend.
Wertschätzung und Respekt
Fehlende Wertschätzung ist eine sehr entmutigende und leider sehr verbreitete Erfahrung bei Kindern und Jugendlichen mit einer Traumatisierung. Dem wird ein positiver Gegenpol entgegengesetzt. Die Kinder und Jugendlichen sollen spüren und erfahren: sie sind wertvoll und zwar bedingungslos. Dabei geht es auch darum, Respekt vor ihren Überlebensleistungen zu zeigen. Es ist oft unvorstellbar, was die Kinder und Jugendlichen mit traumatischen Hintergründen durchgemacht haben. Sie sind zu Spezialisten im Durchstehen schwieriger Lebensbedingungen geworden.
Störendes Verhalten als Überlebensstrategie
Diese Haltung des Respekts betrifft auch die sog. Verhaltensauffälligkeiten. Diese werden nicht einfach als negative, sinnlose oder gar böswillige Äusserungen der Kinder und Jugendlichen angesehen, sondern als Strategien, die sie zum Bewältigen der Belastungen entwickelt haben. Die Kinder und Jugendlichen haben einen guten Grund, sich zum Beispiel bei jedem Konflikt zurückzuziehen, dreinzuschlagen oder einfach nichts mehr zu sagen. Meist geht es darum, sich vor weiteren Verletzungen zu schützen.
Verstehen ohne einverstanden zu sein
Wenn es einen guten Grund für das Verhalten gibt, heisst das nicht, dass es deshalb in Ordnung ist. Es geht darum, die richtige Balance zu finden: Einerseits wollen wir verstehen, dass dieses störende Verhalten für die Kinder und Jugendlichen Sinn macht und ihnen in bisherigen Umständen als Schutz diente. Anderseits ist es unser Auftrag, Grenzen zu setzen und nicht einfach jedes Verhalten gutzuheissen.
Mitarbeitende sind mit ihrer Stabilität und Sicherheit Teil des sicheren Ortes
Ich bin mir bewusst, dass ich mit meiner ganz persönlichen Sicherheit, Ruhe, Freude, mit meinem eigenen Optimismus und Glauben an eine gute Zukunft für die Kinder und Jugendlichen, Bestandteil eines sicheren Ortes bin.
Die Haltung bestimmt und prägt das eigene Verhalten gegenüber den Mitmenschen und uns selber massgeblich, oft auch unbewusst. Sich der eigenen Haltungen immer wieder bewusst zu werden, ist eine wichtige und nicht zu unterschätzende Aufgabe, gerade im Umgang mit traumatisierten Menschen.
Die Pädagogik des sicheren Ortes sind traumatische, belastende Lebenserfahrungen verbunden mit Ohnmacht, Hilflosigkeit, Verlust an Kontrolle, Beziehungsstörungen und Ängsten sowie einer grundsätzlichen Verunsicherung.
Daher ist Sicherheit eine notwendige Voraussetzung für traumapädagogisches Arbeiten.
Was einen Ort zu einem sicheren Ort machen kann
Äussere Sicherheit und gute äussere Versorgung
Kinder und Jugendliche erfahren, dass sie an diesem Ort vor weiteren Angriffen geschützt sind, der Schrecken hat hier ein Ende.
Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wärme und Schutz werden befriedigt.
Das Zimmer ist ein Ort, an dem sich die Kinder und Jugendlichen wohl fühlen und in dem sie auch Privatsphäre erleben können.
Das ist wichtig, weil gerade da viele Entbehrungen erlebt wurden.
Konstante, sichere Beziehungsangebote und Transparenz
Kinder und Jugendliche erfahren, dass sie sich auf erwachsene Bezugspersonen verlassen können und Rückendeckung erleben.
Sowohl die Menschen wie auch die Strukturen sind einschätzbar und vorhersehbar. Es wird offen und dem Entwicklungsstand angepasst kommuniziert.
Das ist wichtig, weil bisherige Beziehungen oft sehr willkürlich erlebt wurden; Reaktionen und Situationen waren schwer einschätzbar.
Bezugspersonen waren nicht verlässlich, das Kind war auf sich selbst gestellt.
Angemessene, individuell angepasste Anforderungen
Trauma hat viel mit Überforderung zu tun. Die Kinder und Jugendlichen fühlen sich dem Leben nicht mehr gewachsen, alles wächst ihnen über den Kopf, was meistens zu einer intensiven Verunsicherung führt. Somit ist es wichtig zu erfahren:
«Die Anforderungen, die an mich gestellt werden, sind angemessen und meinen Fähigkeiten und meinem Entwicklungsstand angepasst. Dabei kann ich zeigen, was ich kann. Mir wird etwas zugetraut, es wird auf mich eingegangen.»
Spass und Freude, genügend Zeit
Das Erleben von Spass und Freude schafft ebenfalls Sicherheit und stellt ein wichtiges Gegengewicht zu den düsteren, freudlosen Erfahrungen dar.
Weiter können auch Zeitdruck und Stress verunsichernd wirken. Genug Zeit haben, schafft Sicherheit und Gelassenheit.
Selbstwirksamkeit und Partizipation
In der traumatischen Situation haben sich die Betroffenen extrem selbstunwirksam erlebt. Ausgeliefert sein, ohne etwas dagegen zu tun – dies ist eine der schmerzhaften, verunsichernden Erfahrungen traumatisierter Kinder und Jugendlicher. Die Entdeckung: ich kann mein Leben selber in die Hand nehmen, ich gehöre dazu, ich habe eine Stimme und werde gehört, ist für diese Kinder und Jugendlichen oft eine ganz neue und sehr heilsame Lebenserfahrung, die Sicherheit schafft.
Spiritualität
«Der Glaube an eine (…) höhere Macht, die mir wohlgesonnen ist und in mein Leben eingreifen kann, lässt sich (…) als einer der stärksten Resilienzfaktoren überhaupt identifizieren. Wer sich von solchen Mächten geborgen und beschützt weiss, (…) fühlt sich sicher» (Baierl2 2014, S. 69). Durch die Resilienzforschung der letzten ca. 10 Jahre wurde dieser Faktor in der Fachwelt neu entdeckt. Spiritualität, der Glaube an eine höhere, gute Macht, kann stabilisierend wirken und tiefe Sicherheit vermitteln.
Klare Werte und Normen
An einem sicheren Ort werden positive, Leben schaffende und Leben ermöglichende Werte und Normen gelebt, gerade die Grundwerte der Kinder- und Menschenrechte wie Wertschätzung jedes Menschen, Gleichwertigkeit, Gerechtigkeit, Verlässlichkeit, Gewaltfreiheit …
Traumatisierte Kinder und Jugendliche haben oft das pure Gegenteil davon erlebt: Wertlosigkeit, Normlosigkeit, Ungerechtigkeit, nicht eingehaltene Versprechen, Gewalt. Diese Faktoren wirken sich äusserst destabilisierend aus.
Alle diese Punkte sind für den Umgang mit allen Menschen von zentraler Bedeutung. Für Kinder und Jugendliche mit traumatischen Erfahrungen sind diese Faktoren der Haltung wie auch die des sicheren Ortes unabdingbar und existenziell wichtig.
Quellen:
*1 Weiss, W.: Philipp sucht sein ich. Beltz Juventa, Weinheim Basel 2013
*2 Baierl, M.: Mit Sicherheit ein gutes Leben: Die fünf sicheren Orte. In: Baierl, M.; Frey, K.: Praxishandbuch Traumapädagogik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014
Lang, B.; Schirmer,C.; Lang, T.; Andreae de Hair, I.; Wahle, T.; Bausum, J.; Weiss, W.; Schmid, M. (Hrsg): Traumapädagogische Standards in der stationären Kinder- und Jugendhilfe – Eine Praxis- und Orientierungshilfe der BAG-Traumapädagogik. Beltz-Juventa, Weinheim 2013